Warum Altern Punk ist und du Doc Martens brauchst.

Nov 12, 2023

NOT MY AGE?

Die Kolumne von Nina Goldhammer

HEUTE: Wenn schon Gesundheitsschuhe, dann bitte die mit gelben Nähten.

Sommer 1984, ich bin 14 Jahre alt und sitze im Bus nach Düsseldorf, um mir Doc Martens zu kaufen. Neben mir hört meine beste Freundin auf ihrem Walkman den Song „You’re My Heart, You’re My Soul“ von einer Band, die noch keiner kennt. Die Fahrt in die Stadt ist eine Weltreise, und die ganze Welt liegt uns zu Füßen.

Szenenwechsel: Herbst 2021, ich bin 50 Jahre alt und schlendere durch die Innenstadt. Mir entgegen kommt mit beschwingtem Schritt eine andere mittelalte Frau, die schneeweiße, blitzsaubere Docs zu ihrem weißen Woll-Twinset trägt. Sie entspricht eher dem Typ Lieschen Müller als dem der  Vivienne Westwood.

Und plötzlich bin ich fast schon sauer. WIESO???? Denke ich. Wieso kann eigentlich JEDE heute Docs tragen? Und dann schäme ich mich ein bisschen und überlege, ob die anderen auch an mir vorbeigehen und sich fragen, was ich mir eigentlich rausnehme, IN MEINEM ALTER. 

„Ich gehe mit einer Flasche Cognac und einem Paar Docs zu Bett.“

Pete Townsend

Als Pete Townsend, Kopf der legendären Band The Who, 1967 ein ziemlich ramponiertes Paar 1460er Stiefel auf der Bühne trug, machte er aus dem Arbeiterschuh über Nacht ein Must-have für Mods, Kreative und Punkbands. Townsend soll mal gesagt haben, er gehe mit einer Flasche Cognac und einem Paar Docs zu Bett. Ich bin eher der Tee- und Buch-Typ. Nicht gerade Punk, ich weiß.

Pete Townsend ist inzwischen 78. Ich frage mich, ob Älterwerden nicht viel eher Punk als irgendwas anderes ist: Du ziehst Karohosen zu Blumenhemden an, färbst dir die Haare blau und krakeelst bei Familienfeiern rum, weil dir eh keiner mehr was kann. Meine Mutter ist ein Punk, bis auf das Blumenhemd.

Heute besitze ich ein paar weiße Dr. Martens Halbschuhe, die ich gekauft habe, weil ich in der Vogue ein solches Paar zu einer schwarze Marlene-Hose gesehen habe. Dank luftgepolsterter Sohle gehen sie übrigens schon fast als Gesundheitsschuh durch.

Apropos Vogue: Wäre das hier ein Artikel für ein Modemagazin, würde ich dich jetzt darauf aufmerksam machen, dass klassische Stiefel im Vintage Stil nicht nur zeitlos sind und zu Röcken, Kleidern UND Hosen passen, sondern dass sie auch nicht kaputtzukriegen sind. Mist, ich hätte meine alle behalten sollen! Ferner würde ich mich und meine Leserinnen kritisch fragen, ob der Stiefel-Trend nicht längst schon wieder vorbei ist. Aber da das hier kein Modemagazin ist, sage ich dir, dass es nur EINE WICHTIGE Regel gibt, die auf Stiefel im Besonderen und auf Mode im Allgemeinen zutrifft: Trage sie aus vollem Herzen. Oder trag sie gar nicht.

„Ich frage mich, ob Älterwerden nicht viel eher Punk als irgendwas anderes ist (…)“

Sommer 2023, 28 Grad im Schatten, meine Freundin und ich fahren zum Shoppen nach Venlo. Wir haben FlipFlops an den Füßen. Im Auto stellen wir fest, dass wir beide die gleiche Handtasche besitzen. Nicht von Prada, sondern von Doc Martens. „Mein Notizbuch passt perfekt da rein“, sage ich. „Genau!“ sagt sie. Es wird Herbst, und ich schleppe meine weißen Docs mit nach Berlin. Beim Shooting leihe ich Daniela von DieAlte meine Schuhe und sie mir ihren Pulli, und dann grinsen wir uns glücklich an.

Freunde. Städte. Docs. Ich schätze, so viel hat sich gar nicht geändert. Ist doch gut, wenn ab 50 alles durch ein paar gelbe Extranähte zusammengehalten wird.

Weitere Infos zu Nina und ihrem Blog gibt es hier:
www.nina-gold.de oder auf Instagram: @ninagoldhammer

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Fotos: Nina Goldhammer